Die wollen doch nur in den Urlaub fahren

Die wollen doch nur in den Urlaub fahren

Thema der Woche, 31.05.2021 von Dr. med. Marlies Karsch
Nach der Einführung der sogenannten „Privilegien“ für gegen COVID-19 Geimpfte und Genesene (besser gesagt, der Wiederherstellung ihrer Grundrechte) möchten viele Menschen zeitnah geimpft werden. Die Aufhebung der Impfpriorisierung erweckt den falschen Eindruck, dass das Warten auf die lang ersehnte Impfung nun ein Ende hat. Dass aber nach wie vor nicht ausreichend Impfstoff für alle vorhanden ist und dass immer noch viele über 60-Jährige und Angehörige von Risikogruppen auf eine Impfung warten, wird von verantwortlichen Gesundheitspolitiker*innen nicht so deutlich kommuniziert. Die Ungeduld der Wartenden wird damit unter anderem an die impfenden Hausarztpraxen weitergegeben.

Von vielen Seiten wird den jüngeren gesunden Personen, die sich eine baldige Impfung erhoffen, unterstellt, dass sie es damit so eilig haben, weil sie „nur in den Urlaub fahren wollen“. Das ist erstens möglicherweise so nicht ganz korrekt und zweitens nach eineinhalb Jahren Pandemie nicht wirklich verwerflich. Natürlich gibt es Regionen in Deutschland, in denen nur Geimpfte und Genesene Urlaub machen dürfen, und Flug- und Kreuzfahrtlinien, die nur Geimpfte mitnehmen. Aber vermutlich möchte die Mehrzahl der pandemiegebeutelten Deutschen eher ins nahe Ausland reisen. Die typischen Urlaubsländer in der europäischen Nachbarschaft verlangen zur Einreise nur noch einen aktuellen Schnelltest und keinen Impfnachweis. Von der Quarantäne in Deutschland nach Rückkehr aus einem Risikogebiet können sich auch ungeimpfte Personen mit einem negativen Schnelltest freitesten. Zum Urlaubmachen ist also nicht unbedingt eine vollständige Impfung nötig.

Was wollen die Leute dann? Sicher möchten viele Vereinfachungen im Alltag, z. B. ohne vorherigen Termin bei der Teststation auf der Terrasse eines Restaurants sitzen. Manche haben selbst Angst vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 und möchten sich sicher fühlen, vielleicht weil sie nicht im Homeoffice arbeiten können und im Arbeitsalltag einem Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Andere wieder fürchten sich mehr vor einer lästigen Quarantäne, falls sie Kontakt zu Erkrankten hatten, z. B. weil sie alleinstehend sind und niemand haben, der einkauft. Es gibt viele Gründe dafür, sich eine Impfung zu wünschen, die wenigsten davon sind verwerflich. Über die Art und Weise, wie manche Einzelpersonen an Impfungen kommen, kann man diskutieren. Die wenigsten versuchen es mit Betrug, aber Vetternwirtschaft, Ausnutzen von Connections oder Mauscheleien gibt es, wie übrigens immer, wenn Menschen sich irgendeinen Vorteil erhoffen. Das trifft aber sicherlich nur auf einen kleinen Teil der Wartenden zu.

Und wenn sich viele Menschen einfach nur Urlaub wünschen, ist ihnen ein Vorwurf zu machen? Der Alltag in der Pandemie verlangt den Menschen einiges ab, sei es, weil sie in ihrem Beruf sehr viel mehr arbeiten müssen als sonst, sei es, weil sie neben Homeoffice noch mit dem Homeschooling überlastet sind oder weil sie in einer der derzeit brachliegenden Branchen, wie der Kultur-, Gastronomie- oder Touristikbranche, tätig sind und kein oder deutlich weniger Einkommen haben. Die meisten mussten in der Pandemie ihren Urlaub verschieben oder haben gar kein Geld mehr für Reisen übrig. Wenn überlastete Familien, Student*innen, die seit Anfang 2020 nur virtuelle Vorlesungen und Kontakte hatten, Menschen, die ihre Freunde und entfernt wohnende Verwandte vermissen, oder Personen, denen einfach die Decke ihrer Einzimmerwohnung auf den Kopf fällt, jetzt einfach „raus" wollen, ist das sehr verständlich. Und dann sind da natürlich die anderen, die vom Tourismus leben und hoffen, dass wieder in den Urlaub gefahren wird.

Selbstverständlich ist es weiterhin wichtig, vorsichtig zu sein und sich auch im Urlaub nicht weniger umsichtig zu verhalten als zu Hause: Kontakte einschränken, Abstand halten, Maske tragen und sich an die Hygieneregeln des Urlaubslandes halten. Die Annahme, dass Menschen im Urlaub grundsätzlich risikofreudiger sind, ist nicht belegt. Aus einem Risikogebiet mit einer 7-Tages-Indizenz um die 50 in ein anderes Risikogebiet mit ähnlicher Inzidenz zu reisen und sich dort verantwortungsvoll zu verhalten, ist wahrscheinlich nicht gefährlicher, als zuhause zu bleiben. Diese Annahme gilt aber nur für diese Konstellation. Fernreisen in Hochrisikogebiete oder Besuche von Virusvariantengebieten zu Urlaubszwecken sind weiterhin als unvernünftig und verantwortungslos anzusehen.

Marlies Karsch, Chefredakteurin