Multimedikation: neue DEGAM-S3-Leitlinie

Warum kommt es immer wieder zu Multimedikation mit weit über fünf Medikamenten?

Multimedikation: neue DEGAM-S3-Leitlinie

Thema der Woche, 30.09.2021 von Dr. med. Marlies Karsch
Die DEGAM hat ihre Hausärztliche Leitlinie Multimedikation überarbeitet und damit ein Upgrade auf S3-Niveau erreicht. Wir haben diese neue Leitlinie unter anderem in unseren Artikeln Polypharmazie im Alter, Nachlassende Gesundheit im Alter und Therapiebegrenzung berücksichtigt. Multimedikation ist definiert als Verordnung von fünf und mehr Wirkstoffen. Sie kommt besonders oft bei Multimorbidität vor, also dem Vorliegen von drei oder mehr chronischen Erkrankungen. Multimorbidität und Multimedikation sind komplexe Problemstellungen in der Hausarztpraxis, die in krankheitsbezogenen Leitlinien und klinischen Studien meist nicht ausreichend abgebildet sind.

Dass die Verordnung von mehr als fünf Medikamenten, gerade bei älteren Patient*innen, zwangsläufig zu Nebenwirkungen, Interaktionen und Compliance-Problemen kommt, ist behandelnden Ärzt*innen bewusst. Doch warum kommt es dann immer wieder zu Multimedikation mit weit über fünf Medikamenten? Die Antwort liegt in unserem Gesundheitssystem. Hier mischen vermutlich zu viele Akteur*innen mit. Eine wirkliche Steuerungsfunktion der Hausärzt*innen scheint politisch nicht gewünscht und der direkte Zugang zu fachspezialistischer Versorgung ist fast unbegrenzt möglich. So passiert es, dass in der Hausarztpraxis Medikamente verordnet und dokumentiert werden, die durch weitere fachärztliche Verordnungen für bestimmte Problemstellungen ergänzt werden. Oft werden diese Verordnungen nicht mit den Hausärzt*innen abgestimmt. Manchmal werden Medikationslisten noch zusätzlich durch Verordnungen im Rahmen eines Klinikaufenthaltes verlängert.

Ein eindrückliches Beispiel erlebte ich beim Hausbesuch bei einer Patientin, die frisch aus der Klinik entlassen worden war. Als ich sie nach ihren Medikamenten fragte, lehrte sie eine Einkaufstüte auf dem Küchentisch aus. Vor mir lag ein regelrechter Berg aus Medikamentenpackungen. Sie kenne sich nicht mehr aus, sagte sie. Nach Durchsortieren der Schachteln waren 20 verschiedene Wirkstoffe zu identifizieren. 16 davon standen auch als Therapieempfehlung auf dem Entlassungsbrief des Krankenhauses. Darunter stammten sechs von der Hausarztpraxis, in der ich angestellt war und insgesamt vier waren „unklarer" Herkunft. Die Patientin wusste nicht, was davon sie aktuell einnehmen sollte. Das war sicher ein Extrembeispiel, aber es zeigt deutlich, was hier die hausärztliche Aufgabe ist: Schutz der Patientin.

Die neue Leitlinie empfiehlt generell bei Multimedikation mindestens einmal jährlich eine ausführliche Erfassung und Bewertung der Medikation. Zusätzlich sollten anlassbezogene Medikationsprüfungen erfolgen, z. B. bei Stürzen oder Klinikaufenthalten. Für eine regelmäßige Überprüfung der Medikation sollte eine Erinnerungsfunktion in der Praxissoftware verwendet werden. Zur Medikationsbewertung sollte unter anderem der Medication Appropriateness Index (MAI) herangezogen werden. Dabei werden Indikation, Wirksamkeit, Dosierung, Sicherheit, Anwendbarkeit, Interaktionen, Therapiedauer, eventuelle Doppelverordnungen und Wirtschaftlichkeit beurteilt. Ein aktueller schriftlicher Medikationsplan für die Patient*innen ist selbstverständlich.

Auf Pharmaka, die eine QT-Zeit-Verlängerung verursachen können, sollte besonders geachtet werden. Das betrifft nicht nur Antidepressiva. Deren Wirkung auf die QT-Zeit dürfte den meisten aufgrund der, von psychiatrischen Praxen immer wieder angeforderten, EKG-Kontrollen bekannt sein. Einen potenziellen Einfluss auf die QT-Zeit haben unter anderem auch Antibiotika (z. B. Makrolide, Chinolone und Trimetoprim-Sulfamethoxazol), Antimykotika, Antipsychotika (z. B. Haloperidol, Quietiapin) und Asthmamedikamente (z. B. Salbutamol, Salmeterol, Terbutalin). Anticholinerg wirkende Medikamente sind bei älteren Patient*innen zu meiden, z. B. Amitriptylin, Cetirizin, Loperamid. Hilfreich sind Listen mit PIM (potenziell inadäquater Medikation). Sie enthalten Medikamente, die Verwirrtheit, Stürze und Delir begünstigen und die Kognition beeinflussen, wie Diuretika, NSAR, Antihistaminika der 1. Generation, Benzodiazepine und Spasmolytika.

Generell gilt, dass bei der Arzneimitteltherapie so wenige Arzneimittel wie möglich und nur so viele wie nötig einzusetzen sind. Das Medikationsregime sollte einfach gehalten werden. Patient*innen mit Multimedikation sollten sich eine Stammapotheke aussuchen, die ihren Medikationsplan im Blick hat und auch bei OTC-Medikamenten auf Interaktionen achten kann. Multimedikation ist häufig herausfordernd für die behandelnden Ärzt*innen. Aber unter Befolgung der in der Leitlinie gegebenen Empfehlungen und Nutzung der angegebenen Hilfsmittel und digitalen Tools können Gefahren und Folgen für die Patient*innen verringert werden.

Marlies Karsch, Chefredakteurin