Opfer von Menschenhandel

Erkennung in der Hausarztpraxis.
Eine hilfreicher Artikel in der Oktoberausgabe der ZFA 10/2020 von Deximed-Chefredakteurin Dr. Marlies Karsch.

Hintergrund

In vielen Großstädten gehören sie zum Straßenbild: Menschen, die sehr offensiv, unter Zurschaustellung von verstümmelten Gliedmaßen, auch bei schlechtestem Wetter betteln. Der Verdacht liegt nahe, dass sie das nicht freiwillig tun, sondern dazu gezwungen werden.

Tatsächlich ist die Ausbeutung einer Betteltätigkeit eine Form des Menschenhandels. Dieser ist, ganz anders als die landläufige Vorstellung besagt, als jegliche Ausbeutung einer Person durch die Ausnutzung ihrer Zwangslage definiert. Das heißt, es können viel mehr Personenkreise betroffen sein, als wir beim Hören des Begriffs „Menschenhandel“ annehmen.

Weitere Formen des Menschenhandels sind zum Beispiel Zwangsprostitution, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, Zwangsheirat oder Zwang zu strafbaren Handlungen. Auch die prekären und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in manchen deutschen Großschlachtereien sind eine Form des Menschenhandels. Laut Statistik sind in Europa Zehntausende Menschen Opfer von Menschenhandel, und die Dunkelziffer liegt vermutlich noch viel höher. Besonders gefährdet sind Migrantinnen und Migranten.

Was ist, wenn Betroffene ärztlichen Rat und Hilfe nicht bei einer Beratungsstelle oder Hilfsorganisation suchen, sondern sich in einer Hausarztpraxis vorstellen? Das kann besonders in größeren Städten durchaus vorkommen. Laut den Ergebnissen einer Umfrage bei ärztlichen und nicht-ärztlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im medizinischen Bereich in Großbritannien ist das Wissen über Menschenhandel, die Identifikation von Opfern und Hilfsmöglichkeiten bei medizinischem Personal sehr lückenhaft [1].

Woran kann man also Opfer von Menschenhandel erkennen, und was ist in einem solchen Fall zu tun? Der vorliegende Artikel soll über die Red Flags für das Vorliegen von Menschenhandel, typische gesundheitliche Folgeprobleme bei den Betroffenen, behutsame Kommunikationsstrategien, das diagnostische und therapeutische Vorgehen in einem solchen Fall und Beratungs- und Unterstützungsangebote informieren.

ZFA Oktoberausgabe 2020

Suchmethodik

Der vorliegende Artikel basiert auf dem Fachartikel „Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution“ und dem darauf Bezug nehmenden „Thema der Woche 2019-W09“ im hausärztlichen Online-Handbuch Deximed. Der zugrundeliegende Deximed-Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Monika Cissek-Evans von der Fachberatungsstelle JADWIGA in München. JADWIGA ist eine Fachberatungsstelle für Betroffene von Menschenhandel und drohender Zwangsheirat. Dort finden Frauen Hilfe und Unterstützung, die in die sexuelle Ausbeutung oder in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse gezwungen wurden oder von Zwangsheirat bedroht sind. Er wurde unter Berücksichtigung verschiedener in selektiver Literaturrecherche identifizierten Quellen erstellt, darunter Statistiken des Bundeskriminalamtes, Stellungnahmen der Vereinten Nationen (UN) und des Europarats sowie Übersichtsarbeiten und andere wissenschaftliche Publikationen.

1. Was ist Menschenhandel?

Antworten auf häufige Fragen
Nach den Definitionen des „Palermo-Protokolls“ der Vereinten Nationen bezeichnet „Menschenhandel“ [2] die „Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung.“

Der Begriff Ausbeutung umfasst „mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder Sklaverei-ähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen.“

Eine ähnliche Definition enthält auch die EU-Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhandels 2011/36/ EU [3] und der Europaratskonvention gegen Menschenhandel [4]. Der Bundesweite Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V. (KOK) definiert konkreter auch noch die Ausbeutung der Betteltätigkeit und die Ausbeutung strafbarer Handlungen als Formen des Menschenhandels [5]. Damit gehören also auch unterbezahlte, schwarzarbeitende Reinigungskräfte, Schlachthofmitarbeiter oder Bauarbeiter zu den Opfern von Menschenhandel, die sich nicht gegen ihren Arbeitgeber wehren können, weil ihnen Aufenthaltspapiere fehlen oder sie keine ausreichenden Sprachkenntnisse haben. Auch zwangsverheiratete Frauen sind Opfer von Menschenhandel.

2. Wie viele Personen sind hierzulande von Menschenhandel betroffen?

Antworten auf häufige Fragen
Zur Häufigkeit dieser Fragestellung in deutschen Hausarztpraxen (oder bei Untersuchung in Aufnahmeeinrichtungen/bei Hilfsorganisationen) gibt es keine Zahlen. Das Problem ist wahrscheinlich häufiger in Großstädten und dort in Praxen an sozialen Brennpunkten. Auch zur Häufigkeit in Deutschland allgemein gibt es kaum zuverlässige Daten. Im „Bundeslagebild Menschenhandel“ des Bundeskriminalamtes werden die Zahlen der abgeschlossenen Ermittlungsverfahren genannt [6]. Für 2018 wird von insgesamt 430 Opfern sexueller Ausbeutung, 63 Opfern von Arbeitsausbeutung, 2 Opfern von Ausbeutung bei der Bettelei, 8 Opfern von Ausbeutung bei der Begehung von Straftaten berichtet. 172 Minderjährige wurden Opfer von Menschenhandel und Ausbeutung.

Laut dem KOK bilden diese Zahlen nicht die reale Situation ab, und die Dunkelziffer ist vermutlich sehr viel höher [5]. Die Fachberatungsstelle für Opfer von Menschenhandel JADWIGA gibt in ihrem Jahresbericht von 2018 für die 357 Opfer von Menschenhandel, die sich an die Beratungsstelle wandten, folgende Häufigkeiten an: sexuelle Ausbeutung 71 %, drohende Zwangsheirat 18 %, Arbeitsausbeutung (auch Zwangsbettelei und Zwang zu strafbaren Handlungen) 12 % [7].

Den Statistiken der Europäischen Kommission zufolge waren im Zeitraum 2016 insgesamt 11.385 Personen in der EU als Opfer von Menschenhandel registriert [8]. Davon waren 62 % Frauen, 17 % Mädchen, 16 % Männer und 5 % Jungen. In Deutschland lag die Zahl weiblicher Opfer bei 89 %. Auch die EU-Kommission geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Nach Angaben der EU-Kommission war die sexuelle Ausbeutung mit 65 % der Fälle am häufigsten, gefolgt von der Arbeitsausbeutung. Frauen sind überwiegend von sexueller Ausbeutung und Männer von Arbeitsausbeutung betroffen [8]. Den Daten der Sachverständigengruppe des Europarats (GRETA) zufolge stieg die Zahl der Opfer von Menschenhandel in Europa von 2015 bis 2018 um 44 % an, von 10.598 auf 15.310 [9].

3. Aus welchen Gründen können Betroffene Opfer von Menschenhandel werden?

Antworten auf häufige Fragen
Migrantinnen und Migranten sind besonders gefährdet, Opfer von Menschenhandel zu werden, es gibt aber auch deutsche Betroffene [5]. Schlechter Zugang zu Bildung, zu Gesundheitsversorgung und zum Arbeitsmarkt (im Herkunftsland) sind prädisponierende Faktoren. Häufige Herkunftsländer von Betroffenen von Frauenhandel sind Nigeria, Uganda, Bulgarien, Äthiopien, Sierra Leone, Rumänien, Kongo, Ungarn und weitere afrikanische, südosteuropäische und osteuropäische Länder (Angaben von JADWIGA für 2018) [7].

Grundsätzliche Ursachen sind eine schlechte wirtschaftliche, soziale und/oder politische Lage im Heimatland und leider auch die Nachfrage in Deutschland nach sexuellen Dienstleistungen und Schwarzarbeit. Unter anderem aus folgenden Gründen können Personen von Menschenhandel und Ausbeutung betroffen sein: Unkenntnis über die eigenen Rechte, wirtschaftliche und/oder aufenthaltsrechtliche Notlage, Abhängigkeit von Arbeitgebern, Verantwortlichkeit für finanzielle Unterstützung der Familie im Herkunftsland oder Isolation (fehlende soziale Netzwerke, unzureichende Sprachkenntnisse) [5]. Weitere Risikofaktoren sind auch LGBTQ-Status, Suchterkrankung, Wohnungslosigkeit oder unsichere Wohnsituation und frühkindliche Traumata oder Missbrauch.

Das Risiko, Opfer von Menschenhandel zu werden steigt, mit der Zahl der Risikofaktoren [10]. Diese Strategien der Täter oder Täterinnen werden bei der Ausbeutung anderer Menschen angewandt: z.B. Entziehung der Ausweise und anderer Papiere, angebliche Schulden, die abgearbeitet werden müssen, Anwendung von Gewalt, Drohungen, Kontrolle (ständige Überwachung), Demütigung, unzumutbare Unterkünfte, Abgabe aller oder des größten Teils der Einnahmen sowie Isolation [5].

4. Wie können Opfer von Menschenhandel in der Hausarztpraxis erkannt werden?

Antworten auf häufige Fragen
In den meisten Fällen ist es nicht offensichtlich, dass Patientinnen und Patienten Opfer von Menschenhandel sind. Klare anamnestische Hinweise fehlen in der Regel und Betroffene geben sich selten beim Erstkontakt zu erkennen. Zu den potenziellen Indikatoren für Menschenhandel gibt es einige Übersichtsarbeiten, aber wenig empirische Evidenz [11]. Ein Alarmzeichen kann sein, dass eine Patientin, unabhängig vom Beratungsanlass, in Begleitung eines Mannes (oder einer Frau) in die Sprechstunde kommt und offensichtlich nicht alleine mit der Ärztin oder dem Arzt sprechen darf [10]. Die Begleiterin oder der Begleiter gibt den Anschein, aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse der Patientin bei dem Gespräch dabei zu sein, dominiert und kontrolliert aber die Kommunikation. Die Patientin macht einen verängstigten Eindruck, oft fehlt der Blickkontakt. Jeder Behandlungsanlass ist denkbar.

Es können sich auch unabhängig davon, also als Zufalls- oder Nebenbefund, Warnzeichen für das Vorliegen von Menschenhandel ergeben [10]: Hinweis auf eine desolate Wohnsituation oder Wohnungslosigkeit ist z.B. der Nachweis von Skabies oder Läusen. Verletzungen, auch Bagatellverletzungen und kleinere Verbrennungen können Zeichen für Misshandlungen sein. Möglicherweise wird behauptet, dass es bei der Arbeit zu diesen Verletzungen gekommen ist. Andererseits können auch Hinweise auf einen nicht gemeldeten Arbeitsunfall oder Folgen unzureichender Schutzausrüstung (z.B. Zehenverletzungen bei Bauarbeitern) bestehen. Auch Angaben zum Arbeitsplatz, z.B. Schlachtbetrieb oder wechselnde Baustellen, und ein osteuropäisches Herkunftsland können bereits einen Hinweis auf eine ausbeuterische Arbeitssituation liefern.

Sexuell übertragbare Erkrankungen (wie z.B. Gonorrhoe, Chlamydien, Kondylome), Folgen eines nicht professionell durchgeführten Schwangerschaftsabbruchs oder eine ungewollte Schwangerschaft können den Verdacht auf das Vorliegen von Zwangsprostitution oder anderer sexueller Gewalt wecken. Auch Symptome einer Suchterkrankung, HIV/AIDS, ein reduzierter Ernährungszustand, gastrointestinale Beschwerden, Zahnverletzungen oder ein sehr schlechter Zahnstatus sowie Tuberkulose können bei Opfern von Menschenhandel vorliegen [10].

Unter den Betroffenen ist die Prävalenz psychischer Erkrankungen sehr hoch. Depression, Angststörungen, Substanzmissbrauch oder posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind häufig [11]. Auch somatoforme Körperbeschwerden treten auf, z.B. Kopfschmerzen, Erschöpfung, Schwindel sowie Rücken- und Bauchschmerzen [11]. In der ersten Anamnesesituation in der Hausarztpraxis kann es schwierig sein, diese Probleme zu erkennen. Trotzdem sollte darauf geachtet und, wenn es die Situation erlaubt, danach gefragt werden.

5. Wie kann bei der Anamnese vorgegangen werden?

Antworten auf häufige Fragen
Einige Untersuchungen haben gezeigt, dass es manchen Opfern von Menschenhandel zunächst leichter fällt, mit medizinischem Personal zu sprechen als mit der Polizei [10]. Wichtig ist, die Vermeidung von Blickkontakt zu akzeptieren, offene Fragen zu stellen und insistierendes Nachfragen zu vermeiden. In jedem Fall sollte eine direkte und behutsame Kommunikation alleine mit den Betroffenen angestrebt werden, möglicherweise mithilfe eines professionellen Dolmetscherdienstes. Hierzu sollte ein Wiedervorstellungstermin vereinbart werden. Im Rahmen eines solchen Termins können dann die oben beschriebenen Hinweise auf das Vorliegen von Menschenhandel und eventuelle psychische Probleme angesprochen werden. Es gibt kein validiertes Screeninginstrument zur Identifizierung von Opfern von Menschenhandel. Folgende
Screeningfragen für die Anamnese wurden von einer Arbeitsgruppe in Zusammenarbeit mit der University of Kansas vorgeschlagen (University of Kansas Human Trafficking Assessment Tool) [10]:

• Werden Sie von jemanden dazu gezwungen, etwas zu tun, das Sie nicht tun wollen?

• Wurden Sie je zum Sex gezwungen, um Schulden abzuzahlen, oder aus einem anderen Grund?

• Hält Sie jemand davon ab, zu kommen und zu gehen, wie Sie es möchten?

• Bewahrt jemand Ihre Ausweisdokumente für Sie auf?

• Wurden Sie über die Art der Arbeit, die Sie ausführen sollen, belogen?

• Zwingt Sie jemand dazu, an Ihrem Arbeitsplatz oder zu Hause zu bleiben?

• Wurden Sie je mit Verschleppung oder Gefängnis bedroht für den Fall, dass Sie versuchen, sich von Ihrer jetzigen Situation zu entfernen?

Falls eine dieser Fragen mit „ja“ beantwortet wird, sollte zunächst abgeklärt werden, welche Form der Hilfe die Betroffenen primär benötigen und ob sie mit einer spezialisierten Fachberatungsstelle sprechen möchten.

6. Wie kann den Betroffenen geholfen werden?

Antworten auf häufige Fragen
Es gibt einige Leitfäden und Empfehlungen zur medizinischen und psychologischen Versorgung Betroffener, aber kaum evidenzbasierte Handlungsanleitungen. Wichtig sind Expertise im Umgang mit traumatisierten Personen sowie Sensibilität für kulturelle Besonderheiten bei den Patientinnen und Patienten. Häufig ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Hilfseinrichtungen, Beratungsstellen, Psychologinnen und Psychologen sowie Ärztinnen und Ärzten anderer Fachrichtungen erforderlich [11].

Besteht der Verdacht, dass Patientinnen oder Patienten Opfer von Menschenhandel sind, sollen sie, falls sie damit einverstanden sind, über Hilfsmöglichkeiten informiert werden. Betroffene, in erster Linie Frauen, können ggf. an eine der Fachberatungsstellen des KOK verwiesen werden. Hier erhalten sie psychosoziale Unterstützung, werden kostenlos und, wenn gewünscht, anonym beraten und ggf. auch an in dieser Problematik erfahrene Anwaltskanzleien, Psychotherapie- oder Arztpraxen vermittelt. Die Fachberatungsstellen helfen bei der Klärung ausländerrechtlicher Fragen, der Wiederbeschaffung von Papieren, Besuchen von Behörden und Ämtern, Zeugenbegleitung in Strafprozessen und auch bei einer sicheren Unterbringung [5].

Betroffene Männer und Frauen in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen finden Unterstützung bei den Beratungsstellen des Projektes Faire Mobilität des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Besteht bei Minderjährigen der Verdacht auf Misshandlung oder sexuellen Missbrauch, sollten sich behandelnde Ärztinnen und Ärzte durch eine Fachkraft des Jugendamtes beraten lassen. Bei Fragestellungen wie Schwangerschaft oder sexuell übertragbaren Erkrankungen sowie V.a. Genitalverstümmelung sollte die Patientin, sofern sie einverstanden ist, an eine gynäkologische Praxis überwiesen werden.

Wünschen Betroffene, dass psychische Probleme, wie Depression oder PTBS in Zusammenarbeit mit der Hausärztin oder dem Hausarzt in Angriff genommen werden, kann bei der Psychotherapeutensuche geholfen werden oder an eine psychiatrische Praxis überwiesen werden.

Laut eines systematischen Reviews zur medizinischen und psychologischen Versorgung von Opfern von Menschenhandel gibt es jedoch bisher keine Studien, die den Effekt von psychologischen Interventionen bei Betroffenen untersucht haben. Die Akzeptanz für eine evidenzbasierte Behandlung von PTBS oder Depression, wie kognitive Verhaltenstherapie, Konfrontationstherapie oder Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) bei dieser Patientengruppe ist ebenfalls bisher nicht untersucht [11].

Fehlt den Betroffenen momentan noch die Kraft, sich aus ihrer Situation heraushelfen zu lassen, bleibt vorerst nur die Möglichkeit einer einfühlsamen ärztlichen Begleitung bei der Diagnostik und Therapie von Begleit- und Folgeerkrankungen. Diese werden indikationsgerecht behandelt, z.B. Wundversorgung, Behandlung von Skabies oder Läusen.

Schlussfolgerungen

Es gibt viel mehr Opfer von Menschenhandel, als gemeinhin angenommen wird. Das liegt auch daran, dass die Definition von Menschenhandel nicht allgemein geläufig ist und sich keinesfalls nur auf Zwangsprostituierte bezieht. Von einer Ausbeutung einer Person durch die Ausnutzung ihrer Zwangslage können viele Personen betroffen sein, die wir normalerweise nicht als Opfer von Menschenhandel ansehen würden. So können beispielsweise Bettelnde auf der Straße, Schwarzarbeiterinnen und Schwarzarbeiter aus osteuropäischen Ländern oder Sexarbeiterinnen Opfer von Menschenhandel sein. Da Opfer von Menschenhandel, wie alle anderen Menschen auch, akut und chronisch erkranken können, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie sich auch an Hausarztpraxen wenden.

Hausärztinnen und Hausärzte können Opfer von Menschenhandel nur dann erkennen und ihnen
gegebenenfalls helfen, wenn sie sich darüber im Klaren sind, was Menschenhandel ist und welche spezifischen gesundheitlichen Probleme damit einhergehen können. Betroffene erscheinen oft in Begleitung in der Praxis, dürfen häufig nicht für sich selbst und nicht alleine mit der Ärztin oder dem Arzt sprechen. Sie können Symptome oder Erkrankungen haben, die auf eine schlechte Unterbringung (z.B. Läusebefall), sexuelle Ausbeutung (sexuell übertragbare Erkrankungen oder ungewollte Schwangerschaft) oder Misshandlung (Verletzungen oder Verbrennungen) hinweisen.

Die Kommunikation erscheint oft schwierig. Hier sollte mit viel Einfühlungsvermögen, möglichst in einem Einzeltermin und, wenn nötig, unter Hinzuziehen eines Dolmetscherdienstes vorgegangen werden. Bei Hinweisen darauf, dass Patientinnen oder Patienten Opfer von Menschenhandel sind und wenn sie damit einverstanden sind, können sie an eine Fachberatungsstelle des KOK oder des Projektes Faire Mobilität verwiesen werden. Hier finden die Betroffenen vertraulich und anonym Hilfestellung und Beratung durch in der Problematik erfahrene Anwaltskanzleien sowie Psychotherapie- oder Arztpraxen. Auch eine telefonische Fachberatung behandelnder Ärztinnen und Ärzte ist möglich. Begleit- und Folgeerkrankungen können, ggf. in Zusammenarbeit mit einer gynäkologischen Praxis, in der Hausarztpraxis behandelt werden.

Literatur

1. Ross C, Dimitrova S, Howard LM, Dewey M, Zimmerman C, Oram S. Human trafficking and health: a crosssectional survey of NHS professionals‘ contact with victims of human trafficking. BMJ Open 2015; 5: e008682

2. www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20004510 (letzter Zugriff am 25.06.2020)

3. eur-lex.europa.eu/legal-content/en/TXT/?uri=CELEX%3A32011L0036
(letzter Zugriff am 25.06.2020)

4. www.coe.int/de/web/conventions/fulllist/-/conventions/treaty/197
(letzter Zugriff am 25.06.2020)

5. www.kok-gegen-menschenhandel.de
(letzter Zugriff am 25.06.2020)

6. Bundeskriminalamt (BKA). Menschenhandel und Ausbeutung – Bundeslagebild 2018. Wiesbaden: Bundeskriminalamt, 2019

7. www.jadwiga-online.de/jahresberichte.php (letzter Zugriff am 25.06.2020)

8. European Commission. Data collection on trafficking 2018 in human beings in the EU.
Final report – 2018. Lancaster University. European Union. 2018

9. GRETA Group of Experts on Action against Trafficking in Human Beings. 9th General report on Greta’s activities. Covering the period from 1 January to 31 December 2019. Council of Europe, March 2020

10. Schwarz C, Unruh E, Cronin K, Evans-Simpson S, Britton H, Ramaswamy M. Human trafficking identification and service provision in the medical and social service sectors. Health Hum Rights 2016; 18: 181–192

11. Hemmings S, Jakobowitz S, Abas M, et al. Responding to the health needs of survivors of human trafficking: a systematic review. BMC Health Serv Res 2016; 16: 320

ZFA Oktoberausgabe 2020

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