Neues zum Reizdarmsyndrom

Für das Reizdarmsyndrom gibt es in Deutschland seit der Version von 2010 keine aktuelle Leitlinie mehr.

Neues zum Reizdarmsyndrom

Thema der Woche, 14.06.2021 von Dr. med. Marlies Karsch
Mit trauriger Regelmäßigkeit kamen Patient*innen zu mir in die Praxis mit chronischen Durchfällen, Obstipation und Bauchschmerzen, die in ihrem Alltag stark eingeschränkt waren. Viele wussten nicht mehr, was sie überhaupt essen sollten, und nahmen vorsichtshalber lieber Abstand von sportlichen Freizeitaktivitäten und Ausflügen, aus Angst keine Toilette in Reichweite zu haben. Wirklich alle sagten in etwa dasselbe: „Frau Doktor, ich bin doch kein Psycho, ich bilde mir das wirklich nicht ein. Der Gastroenterologe hat gesagt, dass er nichts findet und dass alles psychisch ist.“ Diese Betroffenen stellten immer eine große Herausforderung dar. Zum einen mussten sie kommunikativ abgeholt und ihnen gezeigt werden, dass Ihre Symptome ernstgenommen werden. Zum anderen gibt es wenige überzeugende Behandlungsoptionen und -konzepte für das Reizdarmsyndrom (RDS). Oft genügte es aber, noch einmal genauer zuzuhören und hinzusehen. Viele der angeblich somatisierenden Reizdarm-Patient*innen hatten letztendlich doch eine andere Diagnose: z. B. Laktoseintoleranz, mikroskopische Kolitis, Endometriose, Zöliakie oder intestinale Verwachsungen.

Für das Reizdarmsyndrom gibt es in Deutschland seit der Version von 2010 keine aktuelle Leitlinie mehr. Die Evidenzlage ist unübersichtlich und der Markt voller angeblich wirksamer OTC-Präparate. Jetzt sind aktuell neue britische und US-amerikanische Leitlinien zum Reizdarmsyndrom erschienen. In Ermangelung einer gültigen AWMF-Leitlinie haben wir unseren Artikel Reizdarmsyndrom auf der Basis dieser internationalen Leitlinie neu überarbeitet. Beide Leitlinien favorisieren statt der früheren Krankheitsauffassung als „funktionell“ eine Definition des RDS als Störung der Darm-Hirn-Achse. Dabei wird das komplexe Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren berücksichtigt. Die britische Leitlinie empfiehlt eine pragmatische Definition des RDS für die Primärversorgung: abdominelle Schmerzen und Beschwerden assoziiert mit veränderten Stuhlgewohnheiten für mindestens 6 Monate bei fehlenden Alarmsymptomen.

Beide Leitlinien empfehlen eine zurückhaltende Basisdiagnostik: körperliche Untersuchung sowie BSG, CRP, Blutbild, außerdem Transglutaminase-AK und Calprotectin bei Diarrhö als Hauptsymptom. Calprotectin soll nur bei Patient*innen unter 45 Jahren routinemäßig bestimmt werden. Wenn eine typische Reizdarmsymptomatik besteht und keine weiteren anamnestische Hinweise vorliegen, sind routinemäßige Atemtests auf Kohlenhydratmalabsorption oder bakterielle Dünndarmfehlbesiedelung, Tests auf Lebensmittelallergien und Stuhluntersuchungen auf pathogene Keime nicht empfohlen. Eine Koloskopie wird nur bei Alarmsymptomen wie Blutauflagerungen, Meläna, unbeabsichtigter Gewichtsabnahme sowie positiver Familienanamnese für Kolonkarzinom, chronisch entzündliche und andere strukturelle Darmerkrankungen und bei Verdacht auf mikroskopische Kolitis empfohlen.

Den Betroffenen soll das Konzept des RDS als Störung der Darm-Hirn-Achse erklärt werden und wie diese durch Ernährung, Stress, psychische und kognitive Reaktionen auf Symptome, Verhaltensänderungen und postinfektiöse Veränderungen beeinflusst werden kann. Neben einer allgemeinen vollwertigen, ballaststoffreichen und gesunden Ernährung empfehlen beide Leitlinien auch die sogenannte FODMAP-Diät, bei der vergärbare Mehrfachzucker (z. B. Laktose), Einfachzucker (z. B. Fruktose) und Zuckeralkohole (z. B. Süßstoffe) reduziert werden. Eine glutenfreie Diät wird nicht empfohlen. Probiotika empfiehlt nur die britische Leitlinie, es können aber keine konkreten Einnahmeempfehlungen gegeben werden. Lösliche Ballaststoffe sind nach Einschätzung der Autor*innen beider Leitlinien hilfreich. Als psychotherapeutische Maßnahme wird am ehesten eine RDS-spezifische Verhaltenstherapie empfohlen.

Medikamentös empfehlen beide Leitlinien unter anderem Loperamid bei Diarrhö, Linaclotid bei Obstipation, Pfefferminzöl, Antidepressiva und, im Gegensatz zu den bisherigen deutschen Leitlinien, das Antibiotikum Rifaximin, das besonders bei Diarrhö wirksam ist. Rifaximin ist in Deutschland nicht für die Indikation Reizdarmsyndrom zugelassen, die Verordnung erfolgt off label. Die neuen Leitlinien bieten ein aktuelles Krankheitskonzept, das bei den Betroffenen vermutlich größere Akzeptanz findet als die bloße Begründung „psychisch“. Neue Evidenz trägt dazu bei, Diagnostik und Therapie zu vereinfachen und zu verbessern.

Marlies Karsch, Chefredakteurin

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