Bodyshaming macht krank
Ein Bekannter sagte kürzlich zu meiner Tochter, 12 Jahre, sehr groß für ihr Alter, normaler BMI, sie müsse aber jetzt „schon mal langsam auf ihr Gewicht aufpassen“. Warum in aller Welt sollte eine gesunde Zwölfjährige auf ihre Figur achten? Meine Tochter hat das schon etwas getroffen, aber sie hat es glücklicherweise nicht so ernst genommen. Den meisten Menschen ist nicht klar, was sie mit unbedachten Kommentaren anrichten können. Bodyshaming, also Abwertung des Körpers einer Person, wird noch gar nicht so lange als Fehlverhalten gebrandmarkt. Besonders Kinder und Jugendliche, die sich und oft auch ihr Aussehen in sozialen Medien exponieren, können von Bodyshaming betroffen sein. Man muss ein sehr gesundes Selbstbewusstsein haben, um so etwas gut zu verkraften. Ein Blick auf mein soziales Umfeld zeigt, dass nicht alle das können: In der Jahrgangsstufe meiner älteren Tochter leiden zwei Mädchen unter Anorexia nervosa und die Tochter einer Bekannten hat, lange unbemerkt von den Eltern, seit Jahren Bulimie.
Inzwischen gibt es ein Bewusstsein für die Folgen von Bodyshaming und eine Art Gegenbewegung („Body Positivity“). Große Bekleidungshersteller zeigen auf ihren Websites Frauen, die Kleidung in sogenannten Übergrößen präsentieren. Schauspieler*innen und Musiker*innen positionieren sich öffentlich gegen Bodyshaming und berichten von eigenen Mobbing-Erfahrungen. Es besteht also Hoffnung, dass sich hier etwas ändert und sich die Menschen nicht mehr genötigt fühlen, irgendeinem Ideal zu entsprechen.
Wo liegt aber die Grenze zu einem behandlungsbedürftigen Übergewicht? Wie können Ärzt*innen bei übergewichtigen oder adipösen Kindern und Jugendlichen und deren Eltern Probleme ansprechen, ohne die Betroffenen zu stigmatisieren? Sollte auch bei adipösen Erwachsenen lieber gewartet werden, bis die Patient*innen von selbst um Hilfe bitten? Es können sicherlich kommunikativ schwierige Situationen entstehen. Aber spätestens, wenn es bereits zu gesundheitlichen Folgen von Übergewicht und Adipositas gekommen ist oder der Verdacht auf eine Binge-Eating-Störung besteht, sollte das Problem wohl doch sensibel und einfühlsam angesprochen werden. Gerade bei der Behandlung von jungen Patient*innen mit Übergewicht sollten Hausärzt*innen im Hinterkopf behalten, dass Diäten zur Gewichtsreduzierung zur Entwicklung einer Essstörung beitragen können. Der Satz: „Ein paar Kilo weniger können nicht schaden“, ist schnell gesagt und kann eben doch in manchen Fällen schaden. Wir Ärzt*innen sind gefordert, ein Bewusstsein für die Folgen unbeabsichtigten Bodyshamings zu entwickeln und nicht jede Form von leichtem Übergewicht bei gesunden Personen ungefragt zu pathologisieren.
Marlies Karsch, Chefredakteurin