Bodyshaming macht krank

Wo liegt die Grenze zu einem behandlungsbedürftigen Übergewicht?

Bodyshaming macht krank

Thema der Woche, 28.06.2021 von Dr. med. Marlies Karsch
Wir befinden uns gerade in der Sommer-, Bade- und somit in der Bikinisaison. Dies ist nicht für alle Mädchen und Frauen eine schöne Zeit. Den eigenen Körper im Freibad zur Schau zu stellen fällt auch viel mehr Jungen und Männern schwerer als allgemein angenommen wird. Warum ist das so? In Werbung und Medien wird ein Schönheitsideal propagiert, das für die meisten Menschen nicht erreichbar ist: Frauen sollen sehr schlank sein, aber trotzdem üppige weibliche Rundungen haben. Für Männer ist ebenfalls ein sehr schlanker Körper, aber mit Muskeln an den richtigen Stellen vorgegeben. Dass die Vorbilder in den Medien ihr Aussehen nur durch massive Anstrengungen und manchmal auch mittels plastischer Chirurgie erreicht haben und dass in den meisten Fällen auch noch mit Bildmanipulation gearbeitet wird, ist eigentlich den meisten Menschen klar. Trotzdem gibt es eine Vorstellung in den Köpfen, wie ein Körper zu sein hat, oder vielmehr, wie er nicht zu sein hat. Laut einer forsa-Umfrage von 2016 sind nur 45 % der 1.006 Befragten nicht unzufrieden mit ihrem Körperbau. Dies hat vermutlich nicht nur mit eigenen Ansprüchen, sondern auch mit dem Verhalten der Umgebung zu tun.

Ein Bekannter sagte kürzlich zu meiner Tochter, 12 Jahre, sehr groß für ihr Alter, normaler BMI, sie müsse aber jetzt „schon mal langsam auf ihr Gewicht aufpassen“. Warum in aller Welt sollte eine gesunde Zwölfjährige auf ihre Figur achten? Meine Tochter hat das schon etwas getroffen, aber sie hat es glücklicherweise nicht so ernst genommen. Den meisten Menschen ist nicht klar, was sie mit unbedachten Kommentaren anrichten können. Bodyshaming, also Abwertung des Körpers einer Person, wird noch gar nicht so lange als Fehlverhalten gebrandmarkt. Besonders Kinder und Jugendliche, die sich und oft auch ihr Aussehen in sozialen Medien exponieren, können von Bodyshaming betroffen sein. Man muss ein sehr gesundes Selbstbewusstsein haben, um so etwas gut zu verkraften. Ein Blick auf mein soziales Umfeld zeigt, dass nicht alle das können: In der Jahrgangsstufe meiner älteren Tochter leiden zwei Mädchen unter Anorexia nervosa und die Tochter einer Bekannten hat, lange unbemerkt von den Eltern, seit Jahren Bulimie.

Inzwischen gibt es ein Bewusstsein für die Folgen von Bodyshaming und eine Art Gegenbewegung („Body Positivity“). Große Bekleidungshersteller zeigen auf ihren Websites Frauen, die Kleidung in sogenannten Übergrößen präsentieren. Schauspieler*innen und Musiker*innen positionieren sich öffentlich gegen Bodyshaming und berichten von eigenen Mobbing-Erfahrungen. Es besteht also Hoffnung, dass sich hier etwas ändert und sich die Menschen nicht mehr genötigt fühlen, irgendeinem Ideal zu entsprechen.

Wo liegt aber die Grenze zu einem behandlungsbedürftigen Übergewicht? Wie können Ärzt*innen bei übergewichtigen oder adipösen Kindern und Jugendlichen und deren Eltern Probleme ansprechen, ohne die Betroffenen zu stigmatisieren? Sollte auch bei adipösen Erwachsenen lieber gewartet werden, bis die Patient*innen von selbst um Hilfe bitten? Es können sicherlich kommunikativ schwierige Situationen entstehen. Aber spätestens, wenn es bereits zu gesundheitlichen Folgen von Übergewicht und Adipositas gekommen ist oder der Verdacht auf eine Binge-Eating-Störung besteht, sollte das Problem wohl doch sensibel und einfühlsam angesprochen werden. Gerade bei der Behandlung von jungen Patient*innen mit Übergewicht sollten Hausärzt*innen im Hinterkopf behalten, dass Diäten zur Gewichtsreduzierung zur Entwicklung einer Essstörung beitragen können. Der Satz: „Ein paar Kilo weniger können nicht schaden“, ist schnell gesagt und kann eben doch in manchen Fällen schaden. Wir Ärzt*innen sind gefordert, ein Bewusstsein für die Folgen unbeabsichtigten Bodyshamings zu entwickeln und nicht jede Form von leichtem Übergewicht bei gesunden Personen ungefragt zu pathologisieren.

Marlies Karsch, Chefredakteurin

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